Sei ein Gutmensch
Ein Plädoyer für Mitgefühl in einer zynischen Zeit – und warum „woke“ kein Schimpfwort sein sollte.
Es ist wieder Dezember. Die Lichterketten glühen, der Punsch duftet, und selbst in den kühlsten Innenstädten wird versucht, ein bisschen Wärme zu verbreiten. Weihnachten – das Fest der Nächstenliebe, des Gebens, des Mitgefühls.
Und doch: Kaum spricht jemand offen davon, Gutes zu tun, fällt schnell ein Wort, das eigentlich freundlich gemeint sein sollte, inzwischen aber als Beleidigung gilt: Gutmensch.
Vom Lob zum Vorwurf
„Gutmensch“ – ursprünglich die harmlose Beschreibung eines moralisch handelnden Menschen – wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem Kampfbegriff. Er richtet sich gegen jene, die sich für Geflüchtete einsetzen, für Klimaschutz demonstrieren oder Diskriminierung nicht hinnehmen wollen. Wer versucht, die Welt ein Stück gerechter zu machen, wird schnell belächelt: zu naiv, zu empfindlich, zu „woke“.
Doch was ist so verkehrt daran, gut sein zu wollen? Warum gilt es plötzlich als verdächtig, Mitgefühl zu zeigen? Vielleicht, weil Gutes tun heute nicht selten als moralische Zumutung empfunden wird. In einer Gesellschaft, die Zynismus für Intelligenz hält, wirkt Empathie manchmal wie ein Fremdkörper. Dabei sind gerade Empathie und Verantwortung jene Werte, die wir besonders zur Weihnachtszeit so laut besingen – aber zu selten wirklich leben.
Warum ist sich jeder selbst der Nächste?
Wir leben in einer Zeit, in der das „Ich“ oft lauter ruft als das „Wir“.
Leistung, Selbstoptimierung und Konkurrenz prägen viele Lebensbereiche.
Schon früh lernen wir: Wer nicht zuerst an sich denkt, bleibt zurück. Der ständige Druck, funktionieren zu müssen, lässt wenig Raum für Mitgefühl. Egoismus wird so nicht aus Bosheit geboren, sondern aus Angst – Angst, zu kurz zu kommen, abgehängt zu werden, zu versagen.
So entsteht eine subtile Kälte im Miteinander. Man scrollt an Schicksalen vorbei, man nickt verständnisvoll und geht weiter. Aber hinter dieser scheinbaren Gleichgültigkeit steckt oft Erschöpfung. Der moderne Mensch schützt sich, indem er abgrenzt. Doch wer Mauern um sich zieht, hält nicht nur andere fern – sondern auch die Möglichkeit echter Verbundenheit.
Weihnachten als Weckruf
Weihnachten erinnert uns daran, dass wir mehr sind als Einzelkämpfer in einem endlosen Wettbewerb. Es lädt uns ein, wieder zu teilen – Zeit, Aufmerksamkeit, Zuwendung. Denn wer gibt, verliert nicht. Er gewinnt ein Stück Menschlichkeit zurück.
Weihnachten ist im Kern kein Konsumfest, sondern eine Einladung zur Menschlichkeit.
Die biblische Geschichte der Herbergssuche erinnert uns daran, wie es ist, wenn Menschen keinen Platz finden – und wie wichtig es ist, ihnen dennoch die Tür zu öffnen. Wenn wir also zu Weihnachten spenden, einander zuhören oder einfach freundlicher miteinander umgehen, dann sind wir nicht „Gutmenschlichkeits-Verliebte“, sondern schlicht menschlich.
Exkurs: Warum „woke“ kein Schimpfwort ist
In den letzten Jahren hat sich ein weiteres Wort in die öffentliche Debatte geschlichen: woke. Ursprünglich aus der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, bedeutete es schlicht: wach sein für Ungerechtigkeit. „Stay woke“ hieß: Bleib aufmerksam, wenn Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft diskriminiert werden.
Heute wird „woke“ oft abwertend verwendet – als Synonym für übertriebene politische Korrektheit oder moralische Überempfindlichkeit. Doch wer das Wort so gebraucht, entleert es seiner eigentlichen Bedeutung. Wach zu sein für die Ungerechtigkeiten dieser Welt ist kein Makel, sondern eine Tugend.
Vielleicht wäre unsere Gesellschaft ein Stück friedlicher, wenn mehr Menschen woke im ursprünglichen Sinne wären – aufmerksam, sensibel, mit offenem Herzen statt hartem Urteil.
Sei ein Gutmensch
Weihnachten ist der perfekte Zeitpunkt, das Schimpfwort zurückzuerobern.
Ja, sei ein Gutmensch! Hilf, wo du kannst. Frag nach, hör zu, bleib wach. Es braucht Mut, freundlich zu bleiben, in einer Welt, die Zynismus als Coolness verkauft.
Denn am Ende ist es nicht der sarkastische Zeitgenosse, der die Welt verändert – sondern der Mensch, der sich traut, gut zu sein.