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12.09.2022 Allgemein

Auf der Suche nach NIE­MAND

Vorchdorf KZ

„… während der ganzen Nazizeit niemand aus Vorchdorf in ein KZ gebracht worden sei.“

Diese Aussage findet sich im Heimatbuch der Gemeinde Vorchdorf aus dem Jahre 1959. Der ganze Satz lautet: „Der Seargeant Potier Marcel … sagte den Schutz für die Genannten[1] und den ganzen Ort zu, soweit es in seiner Möglichkeit stehe, da während der ganzen Nazizeit niemand aus Vorchdorf in ein KZ gebracht worden sei.“

Diese Äußerung muss von besonderer Bedeutung sein; sie findet sich mit ähnlichen Worten in der Festschrift zur Markterhebung aus dem Jahre 1982 wieder. „Im Ortspfarrhof wurde unter dem ehemaligen Kriegsgefangenen Seargeant Potier Marcel eine Art Kommandantur gebildet. Er und der Ortspfarrer … setzten sich für die inzwischen verhafteten Prielinger und Ortsgruppenleiter Englhofer nachdrücklich ein, wobei sie darauf verwiesen, dass aus Vorchdorf während der gesamten nationalsozialistischen Zeit niemand in ein Konzentrationslager eingeliefert worden war.“[2]

 

Der Verfasser des ersten Heimatbuches, Direktor der Volkschule Pamet und Zellenleiter während des NS-Regimes, erhielt 1960 die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde verliehen. Dieser bedeutungsvolle Satz zielt im Kern darauf, den Nationalsozialismus zu verharmlosen. „Es war ja eh nicht so arg, es ist keinem im Dorfe etwas passiert.“

Die beiden Autoren – der zweite war 1938 bis 1945 stellvertretender Ortsgruppenleiter und Organisationsleiter der NSDAP – haben zweifellos geschickt formuliert, indem sie den Pfarrer und einen ehemaligen Kriegsgefangenen als Zeugen nennen: die beiden werden ja nicht lügen. Der Leser / die Leserin liest schnell weiter in den Texten, erfährt von den vielen „nicht ortsansässigen“ Personen, die nach Kriegsende im Dorf untergebracht waren, von 104 Hauseinbrüchen, die allein im Zeitraum 11. Mai bis 30. Juni 1945 die heimische Bevölkerung erschreckte.

Zurück zur Aussage: niemand aus dem Dorf in ein KZ.  Erst beim Nachdenken erkennt man, wie viel die Aussage offenlässt bzw. verschweigt.  Wie erging es den Fremden, die nach 1939 als ZwangsarbeiterInnen oder Kriegsgefangene auf Bauernhöfen und in Fabriken arbeiteten?  Sie unterschlägt, dass Menschen nicht nur in KZs gequält und ermordet wurden, sondern in vielen anderen Einrichtungen: in St. Pantaleon im Innviertel existierte 1940 bis 1941 ein Arbeitserziehungslager, in Hartheim im Hausruckviertel wurde bis September 1941 im Rahmen der Aktion T4 „desinfiziert“, später wurden Menschen dort „sonderbehandelt“, … Waren Menschen aus dem Dorfe darunter? Und zuletzt stellt sich die Frage, ob Dorfbewohner an Verbrechen gegen die Menschlichkeit in derartigen Einrichtungen oder in anderen Ländern beteiligt waren.

Zur Jahrtausendwende erschien ein neues 450 Seiten starkes Heimatbuch[3]. Darin finden sich Texte zur Frühgeschichte, Reformation und Gegenreformation, Essays zu einem Weltreisenden, zu Ketzern und Hexern. Ich hätte gehofft, Neues über die Zeit des Faschismus zu erfahren. Kein Satz findet sich dazu.

Vor diesem Hintergrund werde ich mich auf Spurensuche begeben. Ich plane, bei den Pfeilern der Autobahnbrücke zu beginnen, entlang des Almflusses zu wandern, Schottergruben, Gewerbegebiete zu durchstreifen, Archive und Chroniken zu durchstöbern, um schließlich von den Hängen des Bäckerberges ins Tal zu blicken. Wer mich auf diesen Spaziergängen begleiten oder mir Informationen für die Recherche geben will, ist gerne eingeladen.

Kontakt: [email protected] oder [email protected]

 

[1] Bürgermeister und Ortsgruppenleiter

[2] Hörtenhuber Josef „Vorchdorf, ein Dorf auf dem Wege zum Markt“ in Vorchdorf Festschrift zur Markterhebung, 1982 S. 42

[3] Marktgemeinde Vorchdorf „Vorchdorf 2000 Ein Lese-, Schau- und Hörbuch“ 1999

Bruno Schernhammer

Gastautor

[email protected]
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