Auf den Spuren von Zdzislav, Stanislaw und Eugeniusz
Ein sehr kurzer Spaziergang
Vor mir liegt eine dreieckige Senke, eingekeilt von der Straße, die nach Eberstalzell führt, dem Flussdamm und dem Buschrain am Mühlkanal, eingezäunt von einem elektrischen Zaun. In meiner Kindheit blühten hier jedes Frühjahr Margeriten, Löwenzahn, Hahnenfuß und andere Blumen.
Hier muss es passiert sein. Zdzislav Frankowski in Mühltal in der Nähe der Almbrücke tödlich verunglückt[1]. Es kann sich nur um diese Wiese handeln. Auf der anderen Seite der Straße beginnt die Steinwandleitn, jenseits der Alm liegt Feldham.
…
Verunglückt. Der Standesbeamte hat den vorgedruckten Begriff durchgestrichen und darübergeschrieben. 17.30 Uhr findet sich als Zeitpunkt.
Acht Tage zuvor hatten Zdzsilav und viele andere Fremde den vorbeifahrenden amerikanischen Soldaten zugewunken. Der Krieg war, zumindest hier im Tal, zu Ende.
In zwei Tagen hätte Zdzislav seinen 26. Geburtstag gefeiert. Hatte er sich schon mit Freunden verabredet? Seit acht Tagen konnte er sich frei bewegen, brauchte das verhasste P-Abzeichen nicht mehr tragen.
Am 16. Mai 1945 wurde er bei der Grabstätte XIX/12 beerdigt. Verblutung durch Handgranatenexplosion am 13. Mai 1945 ist als Todesursache vermerkt.
Wie war er zu einer Handgranate gekommen? Die wahrscheinliche Erklärung findet sich im Vorchdorfer Heimatbuch. Auf der Flucht vor den amerikanischen Truppen hatte die Waffen-SS Panzerfäuste, Handgranaten, Maschinen- und Infanteriegewehre und Munition[2] neben den Straßen zurückgelassen. Als ein Ort wird Mühltal genannt, …
Haben sich Zdzislav Frankowski und Stanislaw Pawelczyk, der bei einem Erdrutsch beim Brückenbau ums Leben kam, gekannt? Dreieinhalb Jahre liegen zwischen ihren Sterbedaten. Bei Stanislaw findet sich Klobuko als Geburtsort eingetragen, Zdzislav stammte aus Lemberg. Auf Stanislaw wartete in Warschau seine Frau Genoveva, Zdzislav war ledig. Stanislaw war 30 Jahre alt geworden.
Den Pfeilern der Autobahnbrücke scheint die Zeit nichts anhaben zu können. Granitblock ruht auf Granitblock. …
Am gegenüberliegenden Ufer sind hinter Gestrüpp Planen von Lastkraftwagen und Anhängern zu erspähen. … Klein-Mühltal wurde dieser Ortsteil früher genannt. Ein Kanal, der 500 Meter weiter flussaufwärts vom Almfluss abgeleitet wurde, durchquerte das Grundstück, welches von steilen Hängen begrenzt ist. Zwei große Häuser lagen an diesem Gewässer. In der Hauser Mühl wohnten in meiner Schulzeit arme Leute, das Gebäude schien halbverfallen, von Mühle keine Spur mehr. Der Kanal floss danach auf die Grünauer Mühl zu, betrieb dort eine Sag, ein Sägewerk. Große Holzstämme stapelten auf einer Seite des Kanals, auf der anderen lagen aufgereiht geschnittene Bretter und Holzabfälle.
War es auf dem Stapelplatz? Waren Holzbloche ins Rollen gekommen und auf ihn gestürzt? Quetschung des Brustkorbes (innere Blutung) ist im Totenbuch eingetragen. Eugeniusz Stanak verstarb am 27. Mai 1944. 22 Jahre alt.
Ein gleichschenkeliges Dreieck von tödlichen Unglücksfällen: Stanislaw, Eugeniusz, Zdzislav. Ich breche meinen Spaziergang ab …
Der ungekürzte Text erschien in: „Zwischenwelt 2021/3: Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“
Kontakt: [email protected]
[1] Todesregister der Gemeinde Vorchdorf 1945 Eintragung Nr. 58
[2] Schwarzelmüller Rudolf „Vorchdorf Ein Heimatbuch für Schule und Haus“, Vorchdorf 1959, S. 343